Dein Körper spricht zu dir
Kennst du das Gefühl, wenn dein Herz plötzlich rast, obwohl keine wirkliche Gefahr besteht? Oder wenn du in einer stressigen Situation wie eingefroren bist und keinen klaren Gedanken fassen kannst? Diese Reaktionen sind Teil deines Gefahrenabwehr-Systems, das die Polyvagaltheorie erklärt.
Entwickelt wurde die Polyvagaltheorie von Dr. Stephen Porges. Sie geht über den Unterschied zwischen Sympathikus (Stress) und Parasympathikus (Entspannung) hinaus und unterteilt das autonome Nervensystem (ANS) in drei hierarchisch organisierte Systeme. Diese drei Systeme bestimmen, wie du dich fühlst, wie du mit anderen interagierst, wie dein Körper auf Stress reagiert und du dich selbst beruhigen kannst – oder auch nicht.
Stell dir vor, du gehst abends allein durch einen dunklen Park. Plötzlich hörst du Schritte hinter dir. Dein Körper schaltet blitzschnell von entspannter Gelassenheit in Alarmbereitschaft. Dein Nervensystem tritt in Aktion und folgt dabei einem bestimmten Muster: Dieses Muster ist wichtig, denn es sichert nicht nur dir, sondern allen vor dir das Überleben. Du wärst nicht hier, wenn deine Vorfahren vom Säbelzahntiger gefressen worden wäre. Also muss es wohl wichtig sein!
Der Sympathikus: Dein Aktivierungs- und Verteidigungssystem
Erinnere dich an eine Situation, in der du dich unruhig oder ängst-nervös gefühlt hast. Das ist die sympathische, mobilisierende Energie. Du hast dabei das Gefühl, dass sich in dir zu viel Energie befindet, spürst ein Unbehagen hast Angst, überflutet zu werden.
Das ist dein Sympathikus in action, dein Kampf-oder-Flucht-System, das dich mobilisiert, um mit Gefahren umzugehen. Dein Herz schlägt schneller, deine Atmung wird flacher, und dein Körper bereitet sich auf Aktivität vor: Wegrennen oder angreifen.
Hast du schon einmal einen wichtigen Vortrag gehalten und gespürt, wie dein Herzschlag sich beschleunigt und deine Hände feucht werden? Oder bist du schon einmal einem aggressiven Hund begegnet und hast sofort den Drang verspürt, wegzulaufen? Das ist dein Sympathikus, der dich auf das Handeln vorbereitet, indem er unter anderem Adrenalin ausschüttet.
Im Alltag kann dieser Zustand auch durch weniger offensichtliche „Gefahren“ ausgelöst werden: eine kritische E-Mail von deiner*m Chef*in, ein Streit mit deiner*m Partner*in oder sogar der ständige Nachrichtenstrom über die Krisen der Welt. Forscherin Deb Dana (2018) hat in ihrem Buch „Die Polyvagal-Theorie in der Therapie“ gezeigt, wie chronische Aktivierung dieses Systems zu Erschöpfung, Angst und gesundheitlichen Problemen führen kann.
Wenn du lernst, diese Zustände wahrzunehmen und einzuordnen, hilft es dir, dich schneller wieder zu entspannen.
Der hintere Vagus: Einfrieren
Der Parasympathikus ist der Gegenspieler des Sympathikus und der Nervus Vagus ist Hauptnerv des Parasympathikus. Dieser Nerv besteht aus zwei Ästen: Der dorsale, hintere Vagus-Ast ist der evolutionär älteste Teil deines Parasympathikus.
Denke an eine Situation, in du dich allein oder beziehungslos mit jemand anderem gefühlt hast, wie eine Art Kollaps. In diesem Zustand hast du nicht genug Energie, um aktiv bleiben zu können. Du sackst förmlich in dir zusammen oder fällst in ein tiefes Loch. Du kannst vielleicht anderen Menschenzwar sehen, aber nicht mit ihnen in Kontakt gehen. Der Zustand könnte sich wie eine Depression anfühlen.
Das ist der hintere Vagus-Ast, der im obigen Beispiel aktiv ist: Er wird aktiviert, wenn weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen. In diesem Zustand „frierst“ du ein (Freeze), fühlst dich betäubt oder abgeschaltet (Shutdown). Dein Stoffwechsel verlangsamt sich, und du ziehst dich innerlich zurück. Die Schreckstarre oder der Totstellreflex ist ein Zustand völliger Bewegungsunfähigkeit, um dem Angreifer zu zeigen: Hier gibt es nichts mehr zu holen, die Beute ist bereits tot und ungenießbar.
Erinnerst du dich an ein Ereignis, bei dem du dich wie gelähmt gefühlt hast? Vielleicht bei einer überwältigenden Nachricht, die dich wie betäubt zurückließ? Das ist der hintere Vagus-Zustand und dein primitiver Schutzmechanismus, der dich abschaltet, wenn die Situation zu bedrohlich erscheint und dein Gehirn es gerade nicht verarbeiten kann.
Dr. Bessel van der Kolk beschreibt in seinem Werk „Das Trauma in dir“ (Neuauflage 2023), wie besonders bei traumatisierten Menschen dieser Zustand chronisch werden kann. Menschen, die häufig in diesem Zustand sind, fühlen sich oft hoffnungslos, erschöpft und von anderen abgeschnitten.
Der vordere Vagus: verbunden mit anderen
Der vordere, ventrale Vagus-Ast ist entwicklungsgeschichtlich der jüngste Teil deines Parasympathikus. Wenn dieser Teil aktiv ist, fühlst du dich sicher, entspannt und sozial verbunden. In diesem Zustand kannst du gut kommunizieren, Blickkontakt halten und dich auf andere Menschen einlassen.
Stell dir vor, du sitzt mit Freundinnen bei einem gemütlichen Abendessen. Du lachst, teilst Geschichten und fühlst dich rundum wohl. Deine Stimme ist melodisch, deine Gesichtszüge sind entspannt, und du atmest ruhig und tief. Das ist dein ventraler Vagus in Bestform: Er ermöglicht es dir, in Verbindung zu sein und dich sicher zu fühlen.
Es ist das Gefühl, wenn alles okay ist, nicht wunderbar oder perfekt, aber okay. Die Welt ist sicher genug, und du kannst dich sicher und leicht in ihr bewegen. Lass diesen Moment lebendig werden, und lass dich von ihm erfüllen… von deinem innersten Kern bis zur Haut.
Laut einer Studie von Porges (2017) verbringen gesunde Menschen etwa 80 Prozent in diesem Zustand des „sozialen Engagements“ oder einfasch der Verbundenheit. Er ist die Grundlage für Wohlbefinden, Heilung und zwischenmenschliche Beziehungen. Wie oft spürst du diese tiefe Entspannung und Verbundenheit in deinem Alltag?
Wahrnehmen und einsortieren
Wenn du lernst, diese drei Zustände in dir zu erkennen, machst du den ersten Schritt zu mehr Selbstregulation und innerem Wohlbefinden. Dazu ist es nötig, erst mal diese verschiedenen Zustände beobachten und sie zuzuordnen. Du kannst bewusst Techniken anwenden, um wieder in deinen ventralen Vagus-Zustand zurückzufinden und dich sicher und verbunden zu fühlen.
Nimm dir einen Moment Zeit und spüre nach: In welchem dieser drei Zustände befindest du dich gerade? Und was könntest du tun, um mehr in den Zustand des sozialen Engagements zu kommen?
Sicher, bedrohlich oder lebensgefährlich?
Das autonome Nervensystem folgt einer klaren hierarchischen Struktur. Bei Sicherheit dominiert der vordere oder ventrale Vagus, der für soziales Engagement sorgt. Bei Bedrohung übernimmt der Sympathikus die Kontrolle und aktiviert den Kampf-Flucht-Modus. Wenn diese Strategien nicht funktionieren, schaltet das System auf den hinteren oder dorsalen Vagus um, was zur Erstarrung führt.
Diese Wechsel sind keine abrupten Ein-Aus-Vorgänge, sondern ein Pendeln zwischen den Zuständen. Der Übergang wird durch die Neurozeption gesteuert – ein andauernder unbewusster Prozess, der Signale aus der Umgebung und dem Körperinneren wahrnimmt, verarbeitet und eine Einschätzung vornimmt: Ist es hier sicher, bedrohlich oder vielleicht lebensgefährlich?
Probleme entstehen, wenn das Nervensystem durch traumatische Erfahrungen überempfindlich wird. Es kann dann zu falschen Einschätzungen kommen, die körperliche Reaktionen auslösen, obwohl objektiv keine Gefahr besteht – wie ein Feuermelder, der bei einer Kerze Alarm schlägt. Chronischer Stress hält den Sympathikus dauerhaft aktiviert, obwohl keine lebensbedrohliche Situation vorliegt. Das kann langfristig zu gesundheitlichen Problemen führen und verhindert die Fähigkeit, in einen entspannten Zustand und die Verbundenheit mit anderen zurückzukehren.
Co-Regulation spielt eine wichtige Rolle beim Wechsel zwischen den Zuständen. Durch Interaktion mit einem regulierten Nervensystem von jemand in deinem Umfeld kann dein durcheinander geratenes System wieder ins Gleichgewicht finden.

Hör auf deinen Bauch!
Entwicklungsgeschichtlich stammen Darm und Gehirn aus demselben Gewebe und kommunizieren über dieselben Botenstoffe. Diese Verbindung erklärt, warum wir von „Bauchgefühlen“ oder „Entscheidungen aus dem Bauch heraus“ sprechen. Bemerkenswert ist, dass 85 Prozent der Informationen vom Darm zum Gehirn fließen und nicht umgekehrt. Diese Kommunikation verläuft größtenteils unbewusst über den Vagus-Nerv als Hauptleitung zwischen den beiden Schaltzentralen.
Der Darm fungiert als Zentrum des Immunsystems, wobei 70 Prozent aller Abwehrzellen des Körpers im Darm angesiedelt sind. Die Darmflora hat erheblichen Einfluss auf die Verbindung zwischen Kopf- und Bauchgehirn und kann Emotionen und Stimmungen maßgeblich beeinflussen. Du verstehst, körperliche und emotionale Prozesse sind untrennbar miteinander verwoben. Traumatische Erfahrungen werden im Körper gespeichert und können nur über körperliche Prozesse aufgelöst werden. So entstehen auch Körpermuster: Der Körper zeigt durch Haltung, Bewegung und Mimik den autonomen Zustand eines Menschen.
Die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche verläuft in beide Richtungen. Positive Gedanken beeinflussen den Körper, aber auch der Körper kann die Psyche beeinflussen. Therapeutische Interventionen können daher sowohl auf der kognitiven als auch auf der körperlichen Ebene ansetzen.
Wie geht Regulation?
Das Vagus-System kann also aktiv durch verschiedene Interventionen beeinflusst werden. Die praktische Anwendung der Polyvagaltheorie in der Therapie basiert auf dem Verständnis, dass körperliche Regulation die Grundlage für emotionale Stabilität bildet. Traumatische Erfahrungen schlagen sich im Nervensystem nieder und führen zu chronischen Zuständen von Mobilisierung (Sympathikus) oder Erstarrung (hinterer Vagus-Ast). Die therapeutische Arbeit zielt darauf ab, den vorderen Vagus zu stärken, um wieder einen entspannten Zustand und Verbundenheit zu anderen zu ermöglichen.
Vagus-Stimulation kann durch bewusste Atemtechniken, Körperübungen und Körperhaltungen erfolgen. Diese Techniken helfen, das Nervensystem aus Erstarrungszuständen zu mobilisieren. Das muss ganz behutsam geschehen. Dann ist man zwar im Kampf-Flucht-Modus, aber immerhin wieder handlungsfähig, um dann als nächsten Schritt zurück in die Entspannung zu kommen. Sicherheit entsteht nach und nach, wenn es geübt und erlernt wird. Das erfordert Mut und Dranbleiben bei*m der Patient*in.
Hier darf gegähnt werden!
- Eine Augenübung hilft dabei: Durch gezielte Augenbewegungen können autonome Entspannungsreaktionen ausgelöst werden, die dem Körper signalisieren, dass er sicher ist: Dein Vagus entspannt sich durch einen tiefen Seufzer oder ein Gähnen.
- Ressourcen stärken und ausbauen: Ein gesunder Lebensstil mit ausreichend Bewegung, ausgewogener Ernährung und positiven sozialen Kontakten unterstützt die Vagus-Funktion langfristig.
- Selbstbeobachtung: Die bewusste Wahrnehmung und Steuerung des eigenen Nervensystemzustands bildet die Grundlage für nachhaltiges Wohlbefinden und Resilienz.
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