Eine Verbindung wurde gekappt…
… und wohin soll jetzt meine Liebe fließen?
Ich lese gerade „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés, das Buch gilt schon als Klassiker über die weibliche Urkraft. Darin beschäftigt sie sich mit Mythen und Märchen und deren Botschaften. Denn Märchen enthalten Weisheiten, wie man in der Welt zurecht kommen soll. Bevor sie christlich umgeschrieben wurden, waren Hexen nichts Böses, sondern weise Frauen und das Wort Hexe keine Beschimpfung. Die Weisheit, die in der weiblichen Urkraft liegt, ist das Wissen um Enstehen und Vergehen, Leben und Sterben.
In der Geschichte „Die Skelettfrau“ geht es um Tod und Wiedergeburt, denn jeder Tod beinhaltet einen neuen Anfang. Mich hat das sehr beeindruckt, denn es gibt mir Kraft.
Wenn die Liebe keinen Ort mehr findet

Warum ist Trauer so schmerzhaft? Warum nimmt sie mir förmlich die Luft zum Atmen?
Dazu habe ich neulich einen sehr interessante Satz gehört: Trauer ist eigentlich nur Liebe, die du geben möchtest, aber nicht mehr geben kannst. Es ist die Liebe oder Zuneigung, die plötzlich keinen Ort oder Abnehmer mehr findet. Trauer wäre als ein Beweis für die Tiefe meiner Liebe und Verbundenheit mit der Person, die nicht mehr – in gewohnter Form – bei mir ist.
Da gibt es das Bild von der „ernergetischen“ Nabelschnur: Wir wären mit uns nahen Menschen energetisch über unseren Bauch (weil Gefühle) mit einanderen verbunden. Plötzlich ist dieser Mensch nicht mehr da. Die Verbindung die da war, ist gekappt worden. Aber wohin jetzt mit dieser Energie, diesem Gefühl, das weiterhin sein Gegenüber sucht? Diese Liebe ohne Ziel, ohne konkreten Empfänger wird zu dem, was wir Trauer nennen. Für mich passt das ganz gut.
Die vielschichtige Natur der Trauer
Trauer zeigt sich in vielen Formen und Facetten, denn sie ist so einzigartig wie die Liebe, aus der sie entstanden ist. Du spürst sie als Welle von Emotionen, die mal hoch komme, dich vielleicht überwältigt, dann wieder zurückgeht und dir dann wieder Raum zum Atmen lässt. Sie kann sich als tiefe Sehnsucht, als Wut, als Leere oder sogar merkwürdigerweise als Erleichterung zeigen. All diese Reaktionen sind natürliche Ausdrucksformen und alle sind völlig in Ordnung, denn es ist DEINE Form dafür.
Du kennst vielleicht das Gefühl, wenn du durch die Stadt läufst und plötzlich glaubst, deine verstorbene Freundin in der Menge zu sehen. Oder wie du automatisch zum Telefon greifst, um deiner Mutter von deinem Tag zu erzählen, bevor dir einfällt, dass sie nicht mehr da ist. Diese kleinen Momente sind Augenblicke, in denen du nach dem gewohnten Kontakt suchst und schmerzhaft auf die Realität geworfen wirst.
Der westliche Blick auf den Tod

In unserer westlichen Gesellschaft haben wir eine komplizierte Beziehung zum Tod entwickelt. Du wirst oft ermutigt, nach vorne zu schauen, „darüber hinwegzukommen“ und „stark zu sein“. Der Tod wird häufig aus dem Alltag verbannt, in Krankenhäuser und Hospize verlagert, sodass wir ihm selten direkt begegnen. Diese Distanzierung hat zu einer kulturellen Verdrängung geführt, die uns oft unvorbereitet lässt, wenn der Tod schließlich in unser Leben tritt. Zumindest war es bei mir vor 25 Jahren so. Ich habe mich seitdem viel damit beschäftigt und auseinandergesetzt.
Ich habe in meinem Verlust festgestellt, dass es kaum Rituale und gesellschaftliche Unterstützung gibt, die mir wirklich geholfen haben, mit diesem Verlust umzugehen. Ich hatte das Gefühl, ich belaste andere mit meiner Trauer: Heute weiß ich, das ist so, weil andere nicht wissen, wie sie mit Verlust, Trauer und Tod umgehen sollen. Ich wusste es ja auch nicht.
Entstehen & Vergehen – der ständige Wandel
Was mir geholfen hat, war ein Geschenk eines Kollegen, eine Bibel. Und zeitgleich habe ich das tibetische Totenbuch gelesen. Beides war Balsam. Das liegt daran, dass Philosophien und Religionen den Tod als integralen Bestandteil des Lebens betrachten. Er gehört einfach zum Leben dazu. In Traditionen wie dem Buddhismus und Hinduismus findet sich ein tiefes Verständnis für den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen. Dieser Gedanke war so hilfreich! Denn sie sehen das Leben nicht als lineare Reise mit einem abrupten Ende, sondern als Teil eines größeren Zyklus, in dem alles ständig im Wandel begriffen ist.
Diese Anschauung findet sich im ganzen asiatischen Raum: Wenn du beispielsweise in Japan die Kirschblüten bewunderst, feierst du ihre Schönheit UND AUCH ihre Vergänglichkeit. Das Konzept des „Mono no aware“ lehrt, die bittersüße Natur des Lebens zu würdigen – die Schönheit der Dinge ist gerade deshalb so berührend, weil sie vergänglich ist: „Es bezeichnet jenes Gefühl von Traurigkeit, das der Vergänglichkeit der Dinge nachhängt und sich doch damit abfindet.“ (Wikipedia)
Ich empfehle gern zwei Filme, die mir gut getan haben:
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Wer früher stirbt ist länger tot (2006)
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Kirschblüten – Hanami (2008)
- Coco – Lebendiger als das Leben! (Zeichentrick, 2017)
Diese Haltung, die Schönheit der Dinge zu würdigen und dich von ihnen durch ihre Vergänglichkeit tiefer berühren zu lassen, kannst du auch auf deine Beziehungen übertragen: Du liebst intensiver, weil du weißt, dass nichts für immer bleibt.
Der Tod als Höhepunkt & Tor zur Erneuerung

Und jetzt spinne ich diese Gedanken noch etwas weiter: Was, wenn wir den Tod nicht als tragisches Ende, sondern als Höhepunkt des Lebens betrachten würden?
Der Tod wird dann zu etwas, das du nicht fürchten musst. Er wird zu einem Moment, dem du mit Neugierde und vielleicht sogar mit einer gewissen Erwartung entgegenblicken könntest. Wie wäre dieser Gedanke für dich?
Sterben als Tor zur Erneuerung
In der Natur beobachtest du ständig, wie Sterben neues Leben hervorbringt. Der fallende Samen wird zur neuen Pflanze, absterbende Blätter nähren den Boden für neues Wachstum. Dieser Prozess der Transformation ist ganz simpel das Prinzip, kann aber auch als tiefe metaphysische Wahrheit verstanden werden: Das Ende von etwas ist immer auch der Beginn von etwas Neuem.
Du spürst diese Wahrheit vielleicht in deinem eigenen Leben, wenn du zurückblickst und erkennst, dass Verlust und Trauer manchmal (immer?) zu tiefgreifenden Veränderungen geführt haben. Vielleicht hast du nach dem Verlust eines geliebten Menschen neue Seiten an dir entdeckt, neue Beziehungen aufgebaut oder deinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich habe eine neue Berufswahl getroffen, neue Menschen in mein Leben gelassen und mich mehr inneren Themen zugewendet. Und das habe ich nicht gemacht, weil ich die verlorene Person damit „ersetzen“ wollte, sondern weil meine Trauer mich transformiert hat.
Trauer als Liebe integrieren
Können wir also mit unserer Trauer anders umgehen, wenn wir sie als eine Form der Liebe verstehen? Der erste Schritt ist, die Trauer zu würdigen und ihr Raum zu geben. Du darfst sie fühlen, ohne sie zu bewerten oder zu unterdrücken. Sie ist ein Ausdruck deiner Liebe und verdient deinen Respekt.
Du kannst beispielsweise ein Ritual entwickeln, das dir hilft, deine Liebe auf neue Weise auszudrücken. Vielleicht zündest du an bestimmten Tagen eine Kerze an, schreibst Briefe an die Person, die du vermisst, oder engagierst dich für eine Sache, die ihr wichtig war. Einige Menschen finden Trost darin, die Liebe, die sie nicht mehr direkt geben können, auf andere zu übertragen. Auch hierbei geht es nicht darum, die verlorene Person zu ersetzen, sondern um deiner Liebe für sie einen neuen Weg zu bahnen.
Den Kreislauf des Lebens annehmen

Wenn wir akzeptieren, dass Sterben und Werden untrennbar miteinander verbunden sind, können wir die eigene Vergänglichkeit nicht mehr als Bedrohung sehen. Wir erkennen den Tod als natürlichen Teil des Lebens. Diese Akzeptanz kann zu einer tieferen Wertschätzung des gegenwärtigen Moments führen und dir helfen, bewusster und intensiver zu leben. Es sind auf einem Male die kleinen Dinge des Lebens, die wir mehr zu schätzen wissen: den Duft von frisch gebrühtem Kaffee am Morgen, das Lachen eines Kindes oder die Wärme der Sonne auf der Haut. Das ist ganz simpel Achtsamkeit und in dem Augenblick erfährst du sie als ein Geschenk, das aus deiner Trauer entstehen kann! Es ist eine neue Qualität deines Erlebens, die dir vorher vielleicht nicht zugänglich war.
Trauer als Weg des Wachstums
Wenn wir Trauer also als transformierte Liebe verstehen, eröffnet sich die Möglichkeit, durch sie zu wachsen. Studien zur „posttraumatischen Reifung“ zeigen, dass Menschen nach schweren Verlusten oft eine vertiefte Wertschätzung des Lebens, bedeutungsvollere Beziehungen und ein stärkeres Gefühl der persönlichen Stärke entwickeln können (Tedeschi & Calhoun, 2004, „Posttraumatic Growth: Conceptual Foundations and Empirical Evidence“, Psychological Inquiry, 15, 1-18).
Du hast vielleicht selbst erlebt, wie dich eine Verlusterfahrung verändert hat
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wie du empathischer geworden bist,
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wie du klarer siehst, was im Leben wirklich wichtig ist,
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wie du gelernt hast, dich verletzlich zu zeigen und
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wie angefangen hast, andere einzuweihen und um Hilfe zu bitten.
Diese Veränderungen sind nicht trotz, sondern wegen deiner Trauer entstanden. Sie sind der Beweis dafür, dass deine Liebe, auch wenn sie ihren ursprünglichen Ort verloren hat, weiterhin in dir wirkt und dich formt. Sie ist sozusagen auf dich selbst „zurück wirkend“.
Die Weisheit der Trauer
Letztendlich ist Trauer nicht nur Liebe ohne Ort, sondern auch eine Lehrmeisterin der Weisheit für dich selbst. Sie führt dich zu tieferen Fragen über den Sinn des Lebens, über Verbundenheit und darüber, was es bedeutet, menschlich zu sein. In der Begegnung mit dem Tod und der daraus entstehenden Trauer liegt die Chance, das menschliche Wesen besser zu verstehen und mitfühlender zu werden.
Warum müssen wir so leiden? Warum ist Verlust ein so universaler Teil der menschlichen Erfahrung? Vielleicht ist die Antwort, dass wir durch Verlust lernen, was es wirklich bedeutet zu lieben – nicht mit dem Wunsch zu besitzen oder festzuhalten, sondern mit der Bereitschaft, loszulassen und dankbar zu sein für die gemeinsame Zeit, die wir hatten.
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