Traumatherapie: Der integrale Weg für Entwicklung

Grafik AQAL, Traumatherapie: Der integrale Weg für Entwicklung Annette Bauer

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Trauma verstehen: Vier Ebenen

Traumata erlebt jede*r mal von uns. Wir verarbeiten sie unterschiedlich gut – und manche leider nicht so gut. Sie sind dann wie unsichtbare Narben, die immer wieder schmerzen können, wenn sie getriggert werden. Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass es sinnvoll ist, Verletzungen nicht nur oberflächlich zu behandeln, sondern sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig anzuschauen. Sie sind eben nicht nur körperlich, sondern wirken auch emotional, geistig und oder spirituell auf die Person. Da finde ich den  integralen Ansatz auch für die Traumatherapie interessant.

Stell dir vor, du hast nach einem belastenden Erlebnis das Gefühl, dass dein Körper manchmal wie eingefroren ist und du nicht mehr klar denken kannst. Der integrale Ansatz würde hier nicht nur an deinen Gedanken arbeiten, sondern auch deinen Körper einbeziehen, deine sozialen Beziehungen betrachten und sogar spirituelle Aspekte berücksichtigen – alles zusammen als Ganzes, nicht getrennt voneinander.

Ken Wilber und der integrale Ansatz

Ken Wilber hat mit seinem Quadranten-Modell einen revolutionären Rahmen für ganzheitliche Therapieansätze geschaffen: Er nennt es AQAL-Modell (All Quadrants, All Levels). Dieses Modell betrachtet den Menschen in vier miteinander verbundenen Dimensionen, die Wilber als Quadranten bezeichnet. Auch ein Trauma kann sich in vier Bereichen zeigen: Vielleicht hast du belastende Gedanken (individuell-innerlich), dein Körper reagiert mit Anspannung oder Erschöpfung (individuell-äußerlich), du ziehst dich sozial zurück (kollektiv-äußerlich) und dein Wertesystem hat sich verändert (kollektiv-innerlich). Der integrale Ansatz schaut auf alle diese Bereiche:

  1. Der individuell-innerliche Quadrant (Ich): Es um deine subjektiven Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und Emotionen. Nach einem traumatischen Erlebnis können sich deine Gedanken ständig um das Geschehene drehen. Du fragst dich vielleicht „Warum ich?“ oder „Hätte ich es verhindern können?“. Im integralen Ansatz lernst du, diese Gedanken zu beobachten und mit ihnen zu arbeiten, ohne dich mit ihnen zu identifizieren. Mit Achtsamkeit oder kognitiver Umstrukturierung lernst du, belastende Denkmuster zu erkennen und zu verändern.
  2. Der individuell-äußerliche Quadrant (Es): Dieser Bereich umfasst deinen Körper, deine Neurobiologie und alle physiologischen Prozesse. Der Körper speichert traumatische Erfahrungen ab – manchmal zitterst du plötzlich, spürst einen Knoten im Magen oder dein Herz rast, ohne dass du weißt warum. Der integrale Ansatz nutzt körperorientierte Methoden wie Somatic Experiencing, EMDR oder bestimmte Yoga-Praktiken, um diese körperlichen Reaktionen zu regulieren. Du lernst beispielsweise durch bewusste Atmung deinen erhöhten Herzschlag zu beruhigen oder durch gezielte Bewegungen festgehaltene Energie zu lösen.
  3. Der kollektiv-innerliche Quadrant (Wir): Dieser Quadrant bezieht sich auf gemeinsame kulturelle Werte, geteilte Bedeutungen und zwischenmenschliche Verstehens­prozesse. Wenn du ein Trauma erlebst, kann sich dein Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit mit anderen verändern. Vielleicht denkst du „Niemand versteht mich“ oder „Ich bin anders als alle anderen“. In diesem Quadranten geht es darum, wieder Vertrauen in Beziehungen aufzubauen. In Gruppentherapien oder durch das Einbeziehen von Bezugspersonen erfährst du ein neues Gefühl der Zugehörigkeit und des Verstandenwerdens. Du merkst, dass du mit deinem Schmerz nicht allein bist und dass Heilung auch durch Verbindung mit anderen geschehen kann.
  4. Der kollektiv-äußerliche Quadrant (Es plural): Hier geht es um soziale Systeme, Institutionen und die materielle Umwelt, in der du lebst. Ein Trauma kann dazu führen, dass du dich aus sozialen Strukturen zurückziehst oder bestimmte Orte meidest. Der integrale Ansatz betrachtet dein soziales Umfeld, deine Arbeitssituation oder deinen Wohnraum, die deine Heilung beeinflussen. Gemeinsam schaut ihr, welche Veränderungen in deinem äußeren Umfeld hilfreich sein könnten – vielleicht mehr Struktur im Alltag, ein unterstützendes soziales Netzwerk oder die Anpassung deiner Wohnsituation, um mehr Sicherheit zu erfahren.

Wozu kann man das nutzen?

Wenn du nach einer traumatischen Erfahrung merkst, dass einzelne Therapieansätze nicht ausreichen – beispielsweise hilft dir Gesprächstherapie zwar, deine Gedanken zu ordnen, aber dein Körper reagiert weiterhin mit starken Angstreaktionen – dann könnte der integrale Ansatz für dich sinnvoll sein. Er kommt häufig zum Einsatz, wenn bisherige Therapieversuche nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben oder wenn du spürst, dass dein Trauma nicht nur psychisch, sondern auch körperlich, sozial und vielleicht sogar spirituell belastend ist.

Besonders hilfreich ist der integrale Ansatz bei:

  • Komplexen Traumafolgestörungen nach länger andauernden oder wiederholten traumatischen Erfahrungen
  • Entwicklungstrauma durch frühkindliche Vernachlässigung oder Missbrauch
  • Traumata, die tief in der Identität verankert sind
  • Fällen, in denen konventionelle Therapiemethoden an Grenzen stoßen

Für all diese Situationen bietet der integrale Ansatz nach Ken Wilber einen Rahmen, der verschiedene Therapiemethoden integrieren kann. Forscher wie Bessel van der Kolk betonen in ihren Arbeiten die Notwendigkeit solcher ganzheitlichen Ansätze. In seinem Werk „Der Körper behält die Score“ (Original: „The Body Keeps the Score“ van der Kolk, 2015) zeigt van der Kolk auf, wie Trauma im Körper gespeichert wird und wie wichtig körperorientierte Ansätze sind – ein Aspekt, der im integralen Modell klar berücksichtigt wird.

Ganzheitlichkeit

Wenn du schon verschiedene Therapien ausprobiert hast, kennst du vielleicht das Gefühl, dass ein wichtiger Teil von dir nicht gesehen wird. Vielleicht hat eine Therapie nur deine Gedanken angesprochen, aber dein Körper fühlte sich weiterhin nicht sicher. Oder du hast körperliche Übungen gemacht, aber die sozialen Auswirkungen des Traumas wurden nicht berücksichtigt. Der integrale Ansatz sieht dich als ganzen Menschen und bezieht alle Aspekte deines Seins ein.

Stell dir vor, du kommst nach einem Autounfall mit Angstzuständen in die Therapie. Eine rein kognitive Therapie würde an deinen angstauslösenden Gedanken arbeiten. Eine körperorientierte Therapie würde sich auf deine körperlichen Reaktionen konzentrieren. Der integrale Ansatz hingegen berücksichtigt beides und mehr: Er hilft dir, deine Gedanken zu reorganisieren, deinen Körper zu beruhigen, unterstützende soziale Beziehungen aufzubauen und vielleicht sogar existenzielle Fragen zu erforschen, die das Trauma aufgeworfen hat. Du fühlst dich als ganzer Mensch wahrgenommen und nicht auf einzelne Symptome reduziert.

Diese Ganzheitlichkeit wird auch durch aktuelle Forschung unterstützt. Eine Metastudie von Cloitre et al. (2011) zeigte, dass phasenorientierte, integrative Behandlungsansätze bei komplexen Traumafolgestörungen besonders wirksam sind (Cloitre, M., Courtois, C.A., et al., 2011, „Treatment of Complex PTSD: Results of the ISTSS Expert Clinician Survey on Best Practices“, Journal of Traumatic Stress).

Integration verschiedener Bewusstseinsebenen

Der integrale Ansatz nach Wilber erkennt an, dass Menschen sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden können – nicht nur kognitiv, sondern auch emotional, moralisch und spirituell.

Trauma kann deine Entwicklung auf bestimmten Ebenen blockieren, während andere Aspekte weiter reifen. Der integrale Ansatz hilft dir, diese unterschiedlichen Entwicklungsstände zu erkennen und dort anzusetzen, wo Heilung am dringendsten benötigt wird. Vielleicht bist du intellektuell sehr reflektiert, hast aber Schwierigkeiten, deine Emotionen zu regulieren. Oder du hast ein starkes moralisches Empfinden, fühlst dich aber körperlich unsicher. Forschungen von Cook-Greuter (2013) zur Entwicklung des Ego-Bewusstseins unterstützen diese Perspektive und zeigen, wie wichtig es ist, verschiedene Entwicklungsstufen in der Therapie zu berücksichtigen (Cook-Greuter, S., 2013, „Nine Levels of Increasing Embrace“).

Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität

Ein weiterer Vorteil des integralen Ansatzes ist die Brücke, die er zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und spirituellen Perspektiven schlägt. Die Integration von Wissenschaft und Spiritualität wird auch durch Studien wie die von Koenig et al. (2001) unterstützt, die zeigen, dass spirituelle Praktiken die psychische Gesundheit und Resilienz fördern können (Koenig, H.G., McCullough, M.E., & Larson, D.B., 2001, „Handbook of Religion and Health“, Oxford University Press).

Warum ist das wichtig? Trauma kann existenzielle Fragen aufwerfen und das bsiherige Weltbild erschüttern. Beim integralen Ansatz werden spirituelle Dimensionen nicht ausgeschlossen, sondern sinnvolle Weise integriert. Wenn du beispielsweise nach einem schweren Verlust mit Sinnfragen ringst, bietet dir die integrale Therapie Raum, diese Fragen zu erforschen, ohne wissenschaftliche Erkenntnisse über Traumaverarbeitung zu vernachlässigen.

Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung

Im integralen Ansatz spielt die therapeutische Beziehung eine zentrale Rolle als sichere Basis. Wenn du ein Trauma erlebt hast, ist dein Vertrauen möglicherweise erschüttert. Die Beziehung zu deiner Therapeutin oder deinem Therapeuten bietet dir einen sicheren Raum, in dem du dich öffnen und verletzlich zeigen kannst. Diese Beziehung wird im integralen Ansatz besonders wertgeschätzt und aktiv gestaltet. Du erfährst Empathie, Verständnis und bedingungslose Wertschätzung – Qualitäten, die bereits an sich heilsam wirken können. Das wird durch zahlreiche Studien auch noch mal bestätigt, beispielsweise die Forschung von Norcross und Lambert (2018), die zeigt, dass die therapeutische Allianz einer der stärksten Vorhersagen für den Therapieerfolg ist (Norcross, J.C., & Lambert, M.J., 2018, „Psychotherapy Relationships That Work“, Oxford University Press).

Herausforderungen und Grenzen

Trotz seiner vielen Vorteile ist der integrale Ansatz nicht ohne Herausforderungen und Grenzen. Denn dieser Ansatz benötigt Zeit, Engagement und manchmal auch mehr Ressourcen als eine konventionelle Therapie. Es kann sehr viel sein, sich gleichzeitig mit verschiedenen Aspekten eines Traumas auseinanderzusetzen. Zudem ist es wichtig, eine Therapeutin oder einen Therapeuten zu finden, die/der in verschiedenen Methoden ausgebildet ist oder gut mit anderen Fachleuten zusammenarbeitet. Einige Kritiker*innen merken an, dass der integrale Ansatz zu komplex sein kann und dass es an standardisierten Protokollen mangelt, die seine Wirksamkeit eindeutig belegen. Dennoch wächst die empirische Basis für integrative Traumatherapien stetig.

Trotzdem können wir den integrale Ansatz auch einfach so nutzen: Er erinnert uns daran, dass Trauma eine psychische Störung ist, die alle Aspekte des Menschseins betrifft. Entsprechend muss auch die Heilung auf allen Ebenen stattfinden. Wie der Traumaforscher Peter Levine sagt: „Trauma ist nicht das, was uns passiert, sondern was wir in uns festhalten, wenn wir nicht genügend Unterstützung haben“ (Levine, P., 2010, „In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness“, North Atlantic Books).

Der integrale Ansatz bietet diese umfassende Unterstützung, die es dir ermöglicht, daran zu wachsen und ein erfüllteres Leben zu führen.

Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, buche gern für einen Austausch mit mir einen kostenlosen Zoomcall. Jetzt buchen!

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Über mich
Annette Bauer HP Psychotherapie Coaching Xperience Portrait
Hallo, ich bin Annette
Ich bin Berlinerin und war 25 Jahre als Layouterin und Redak­teurin tätig. In den letzten Jahren im Job war ich kurz vorm Burnout und wurde dann ent­lassen. Auch privat habe ich Schick­sals­schläge erleben müssen.

Dabei hilft mir seit über 30 Jahren unter anderem eine regelmäßige Yoga-Praxis.

Andere Menschen begleite ich als Heil­prakti­kerin mit einer ressour­cenorien­tiert, systemisch oder mit einer Trauma­therapie.
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